Dem Burgenland Journal vom Samstag, 4. Januar 2025 entnommen:
Stadtgeschichte Vom „Grünem Schild“ und „Rotem Hirsch“ zur „Hirschpassage“: Die Jakobsstraße ist eine ältesten Straßen Naumburgs mit einer überaus bewegten Entwicklung, vor allem in der Gastronomie. Geschäfte unterschiedlicher Couleur gab es zahlreiche.
Die Naumburger Jakobsstraße ist eine der Straßen in der Naumburger Innenstadt, die nachweislich seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts, aber mit Sicherheit schon länger existiert. Im Naumburger Geschossbuch (Steuerverzeichnis) von 1314 wird die Straße als „platea Jacobi“ aufgeführt. Ihren Namen hat sie von der Jakobskirche, einer Kapelle, die es früher in der Jakobsstraße gegeben hat. Der Standort der Kirche kann nicht mit Sicherheit angegeben werden, man vermutet aber das Grundstück Nr. 28/29. Nach dem großen Stadtbrand von 1517 soll die Kirche unbenutzt und baufällig gewesen sein, weswegen der Stadtrat 1535 den Bischof um die Genehmigung für deren Abriss bat. Obwohl dieser die Bitte abschlägig beschied, riss man sie 1536 ab.
Spannendes Haus Nr. 31
In der Jakobsstraße gibt es viele beeindruckende Gebäude, aber auch einige, die weniger ansehnlich sind. Zu letzteren gehört das Haus Nr. 31. Da es derzeit eingerüstet ist, kann man hoffen, dass es bald wieder in neuem Glanz erstrahlt. Es bietet von der Jakobsstraße aus den Eingang zur Hirschpassage, wie dieser Durchgang immer noch genannt wird.
Was ist über das Haus bekannt und wo kommt diese Bezeichnung her? Gebaut wurde es nach dem großen Stadtbrand von 1517 als Gasthof, vermutlich, wie so viele Gebäude in der Naumburger Innenstadt, auf älteren Kellergewölben. Der Name des Gasthofes lautete „Zum grünen Schild“. Seit 1525 kennt man von dem Haus, das im Laufe der Jahrhunderte vielfach umgebaut, erweitert und aufgestockt wurde, die Besitzer.
In einer 1910 im Naumburger Kreisblatt veröffentlichten Häusergeschichte kann man lesen: „Der Besitzer von 1525 Peter Kolbel, der 1530 starb, wie sein Sohn Wenzel Kolbel werden ,Gastgeber’ genannt. Dessen schon 1548 erwähnter Besitzfolger, der Gerichtsschöppe Valten Schmidt, starb 1560 und seine Witwe verkaufte das Haus 1561 an Thomas Podisch, wenn dieser nicht etwa ihr zweiter Mann war. 1593 war Jakob Zehe, seit 3. November 1600 Hans Koch Schildwirt. Daraus, dass keiner der vielen zum Fürstentag 1614 hier anwesenden hohen Herren bei ihm wohnte, darf man vielleicht schließen, dass sein Haus nur ein Gasthof gewöhnlicher Art war. Sein Nachfolger Hans Schmidt, der zugleich Bürgermeister war, beherbergte einen Teil des Gefolges der um Neujahr 1632 hier durchreisenden Königin Eleonore von Schweden.“
Bach und Silbermann Gäste
Hans Schmidt kaufte ein Stück Hof des Hauses Nr. 30 und vom Haus Große Marienstraße 8 und erweiterte damit den Hinterausgang zur Marienstraße hin. Sein Nachfolger war sein Sohn, der Ratsherr Wilhelm Schmidt, der das Haus 1665 tauschweise Gottfried Böhle überließ. Dieser muss es gewesen sein, dem es gelang, am 1. März 1669 vom Herzog Moritz von Sachsen ein Privilegium für sein Gasthaus „Zum grünen Schilde“ zu erhalten. Das trug sicherlich zum Anstieg seines Ansehens bei, weshalb die Stadt hier 1746 Johann Sebastian Bach und Gottfried Silbermann einquartierte.
Diese hatten den Auftrag bekommen, die neue Orgel in der Wenzelskirche, die Zacharias Hildebrand nach den Plänen von Silbermann gebaut hatte, zu prüfen und abzunehmen. Die Stadt ließ sich das etwas kosten. Die Kämmereirechnungen dafür weisen „zur Diskretion und für die Bewirtung bei Übernahme der Orgel“ die ganz erhebliche Summe von 85 Thalern, zehn Groschen und drei Pfennigen aus. Der Rat hatte sich vorher über den Geschmack der Gutachter gut informiert, er gab ihnen nicht nur 30 Kannen blanken Wein, sondern auch Kaffee und Tabak einschließlich Tabakspfeifen.
In den nächsten Jahren wechselten die Besitzer des Hauses mehrfach. Anhand von Geschäftsanzeigen im Naumburger Kreisblatt lässt sich die Existenz des „Grünen Schildes“ bis 1876 nachweisen. Besitzer des Hauses war der Rosshändler Louis Putze, letzter Pächter der Gastwirtschaft August Albrecht. Bayerisches Bier sowie diverse Speisen waren im Angebot, und er machte auch „die Herren Gutsbesitzer auf seine gute Stallung“ aufmerksam. 1876 offerierte er sogar einen Billardtisch „zur gefälligen Benutzung“.
1877 übernahm der Gastwirt August Edelhäuser das Haus. Am 21. Januar verkündete er im Naumburger Kreisblatt: „Ich mache hiermit die ergebenste Anzeige, dass ich Sonntag, 21. Januar, mein neu eingerichtetes Hotel ,zum rothen Hirsch’ eröffne und lade hiermit das geehrte Publikum von Stadt und Land mit dem Bemerken ergebenst ein, dass ich mit einer reichen Auswahl warmer und kalter Speisen, sowie mit ff. Erlanger und Altenburger Actienbier bestens aufwarte. Es wird mein eifriges Bestreben sein, dem geehrten Publikum gerecht zu werden.“
August Edelhäuser und später seine Frau Pauline betrieben das Hotel bis 1892. Der wirtschaftliche Erfolg lies wohl zu wünschen übrig, denn 1884 wird von einem neuen Besitzer des Hauses, der Aktienbrauerei Gohlis, als Edelhäusers Gläubigerin berichtet. Doch auch als Pächter war Edelhäusers Angebot umfangreich. Es wurden nicht nur Gäste beherbergt und mit Essen wie Truthahn oder Rehkeule und Gänsebraten mit rohen Klößen verwöhnt. Man bot auch Unterhaltung an, beispielsweise „musikalische Gesangsvorträge“, „Tambourin-Virtuosen“, Konzerte einer „Damen-Kapelle“ und vieles andere mehr.
Mittagstisch im Abonnement
Der frühere Oberkellner im „Hotel zum Ross“, Wilhelm Bergmann, war der nächste Pächter. Im Kreisblatt vom 8. Februar 1893 teilte er mit, „Hotel z. Hirsch habe ich am heutigen Tage übernommen und vollständig renoviert. Es wird mein eifrigstes Bestreben sein, alle mich beehrenden Gäste zur Zufriedenheit zu bedienen. Logis mit sauberen Betten, billigste Preise, vorzügliche Küche. Mittagstisch im Abonnement billig, sehr gute Weine, desgl. Bayrisch, Lager- u. Berliner Weißbier. Konzerte von nur beliebten Gesellschaften. 26. Januar 1893“. Mit einer Ansichtskarte aus jener Zeit warb er für sein Unternehmen: „Hotel zum rothen Hirsch – Theater und Variete“. Er organisierte viele Veranstaltungen, wie beispielsweise „Gesangs-Vorträge der Gesellschaft ,Germania’ aus Berlin“, „Auftritt des preisgekrönten Damen-Darstellers Herrn Franz Gans“ aus Leipzig oder „Humoristische Vorträge der I. Thüringer Volkssänger-Gesellschaft“.
Vier Jahre später zog Bergmann zwei Häuser weiter und übernahm die „Drei Schwäne“. Damit wurde der Platz im „Hirsch“ frei für Fritz Hellwig, der vorher Gastwirt im „Goldenen Hufeisen“ war. Im Kreisblatt vom 7. Juli 1897 lies er die Naumburger wissen, dass er vom 1. Juli an die Bewirtschaftung übernommen hat und er „den mich beehrenden Gästen in jeder Beziehung vollkommen gerecht werden“ will. „ff. Biere, vorzügliche Weine und gute Küche, sowie Logierzimmer empfehle ich zur gefälligen Benutzung“.
Wie seine Vorgänger warb auch er wieder im Kreisblatt für den Besuch diverser Veranstaltungen, darunter eine „Große humoristische Soiree der ersten Berliner Damen-Sänger-Gesellschaft ,Helena’“ und ein Konzert des italienischen Mandolinen-, Gitarre- und Gesangs- Ensembles ,Addia Napoli’“.
Auch Hellwig hielt im „Hirsch“ nicht lange durch und wechselte 1900 als „Restaurateur“ in die Kleine Fischgasse. Doch der Übergang zum nächsten Pächter verlief scheinbar fließend. Im Kreisblatt vom 25. Juli 1900 ist zu lesen, dass Gottlieb Wawrzinek, zuvor Hausdiener im Sächsischen Hof, in dem von ihm erpachteten Lokale „Roter Hirsch“ den Ausschank von Bier begonnen hat. „Auch sind neu hergerichtete Stallungen zur Ausspannung vorhanden“.
Logierzimmer renoviert
Nur eine Woche später erfuhr man dann, dass das Hotel wieder eröffnet ist, „nachdem es der Neuzeit entsprechend eingerichtet und besonders die Logierzimmer von Grund auf renoviert worden sind.“ Auch er versprach seinen Gästen „gut gepflegte Biere, ff. Weine und vorzügliche Küche bei freundlicher und aufmerksamer Bedienung“. Im gleichen Jahr wurde im Anschluss an die überbaute Einfahrt in der Jakobsstraße eine Überdachung mit einer verglasten Stahlkonstruktion angebracht. Das ermöglichte eine witterungsunabhängige Bewirtschaftung dieser Fläche, wie auf einer Ansichtskarte von damals zu sehen ist.
Bockbier, russischer Salat
Wawrzinek bemühte sich ebenfalls, seine Gäste nicht nur zu bewirten, sondern auch zu unterhalten. So bewarb er unter anderem Frühschoppen-Konzerte, Schlachte-Feste, „Humoristische Familienabende mit Konzert-Vorträgen“ und Bockbierfeste „bei urfideler Unterhaltung“. Ausgeschenkt wurde dabei natürlich das „hochfeine Bockbier der Aktienbrauerei Leipzig-Golis“, die, wie oben erwähnt, seit 1884 Besitzer des Hauses war. Höhepunkt eines solchen Abends im Jahr 1906 war das „Einreiten des Schneidermeisters Ernst Klinge mit seinem dressierten Ziegenbock und eine große Völkerschlacht unter Mitwirkung des Publikums“. So mancher von uns wäre sicher gern dabei gewesen.
1912 fand Wawrzinek ein neues Betätigungsfeld mit der Bewirtschaftung der Gastwirtschaft „Stadt Naumburg“ in der Kleinen Jakobsstraße 1, später auch Restaurant und Café genannt. Nächster und letzter Pächter im „Hotel zum Hirsch“ wurden ab Februar 1912 Otto Walther, nach dessen Tod seine Frau Amalie, die noch 1920/21 als Gastwirtin Erwähnung findet. In Geschäftsanzeigen wird für Getränke wie Bockbier und Speisen geworben. Russischer Salat und Bockwürste, Speckkuchen, Sauer-, Bock- und Hammelbraten mit Klößen waren darunter.
Im Jahre 1924 erwarb der Architekt Oskar Balzer das Anwesen. Er lies umfangreiche bauliche Veränderungen vornehmen. Das Naumburger Tageblatt berichtet darüber am 4. Dezember 1924: „Der Durchgang des früheren Hotels zum Hirsch, der seither meistens geschlossen und nicht besonders einladend war, ist heute nach einer verhältnismäßig kurzen Bauzeit von vier Monaten in veränderter Gestalt dem öffentlichen Verkehr übergeben worden und hat die Bezeichnung ,Handelshof zum Hirsch’ erhalten. Er bietet einen bequemen Wandelgang, wie man ihn sonst nur in großen Städten findet, der Jakobsstraße und Marienstraße verbindet. Das frühere Pflaster ist beseitigt worden, an seine Stelle sind saubere Steinplatten getreten, auch das Düstere des Hofes ist verschwunden.“
Bekannte Namen
Und weiter heißt es: „ Der Handelshof trägt als Wahrzeichen an seiner Vorderseite in der Jakobsstraße einen vergoldeten Hirschkopf nach dem Entwurf des Bildhauers Horn. Abgesehen von einer Anzahl Geschäfte und Bureaus sind für diesen Handelshof noch verschiedene Reklame-Kioske vorgesehen, die an hiesige größere Geschäfte zwecks Ausstellung ihrer Waren vergeben sind.“ Die Anzeige des „Handelshofs zum Hirsch“ erwähnt auch ein „Spezialgeschäft für fertige Herren- und Knaben-Bekleidung“ von Albert Michalowski, über das noch berichtet wird.
In Naumburgs Adressbüchern findet man in den folgenden 25 Jahren zahlreiche Einträge zu Mietern in der Jakobsstraße 31, es wurden hier Damenmode und Trikotagen, Blumen, Geschenkartikel sowie Radios verkauft, es gab einen Fotografen, einen Friseur und Uhrmacher, eine Putzmacherin, Rechtsanwalt und Zahnarzt. Namen wie Bermich, Tempel und Selle dürften älteren Naumburgern noch bekannt sein. Eine Zeichnung von Ernst Selle zeigt uns das Aussehen und die Geschäfte bis in die 1960er-Jahre.
Nach 1990 ging es mit der Hirschpassage abwärts. Nach Rückübertragung, Besitzerwechsel und Gerichtsprozessen verfiel das Gebäudeensemble immer weiter. 2002 stellte man umfangreiche Bauschäden und Befall durch Hausschwamm fest. Nachdem die Naumburger Stadtverwaltung viele Jahre lang den Besitzer eines Großteils der Passage nicht zu einer Sanierung bewegen konnte, gelang es ihr schließlich, das Teilstück zu erwerben. Ende 2018 schaffte sie es, trotz zahlreicher Widrigkeiten, erste Sanierungsarbeiten zu starten. 2019 konnte im Tageblatt konstatiert werden, dass „der Fußweg entlang der Passage nun vollständig mit neuem Pflaster bedeckt ist. Und auch die Fassaden machen mit einer Ausnahme einen guten Eindruck. Die Familien Becker und Görnandt als anliegende Eigentümer waren da schon vor einer Weile positiv vorangegangen.“
Bald wieder Leben in Gasse?
Die Stadt Naumburg investierte rund 70.000 Euro in die Sicherung und Sanierung ihres Hirschpassagen-Teilstücks. In dem Zusammenhang angebrachte Lampen sind durch Vandalismus schnell wieder zerstört worden.
Anfang 2021 wurde der nördliche Teil der Hirschpassage, die Marienstraße 5 bis 7, verkauft, und nunmehr hat, wie man hört, auch der südliche Teil, die Jakobsstraße 31, einen neuen Besitzer gefunden. Die eingangs erwähnte Einrüstung der Fassade lässt hoffen, dass es mit der Beseitigung des Schandflecks voran geht und vielleicht wieder neues Leben in die 100-jährige Hirschpassage einzieht.
Der Autor dankt Matthias Becker, Frank Minner und Rüdiger Prang für das Bereitstellen von Material.