1000 mal Naumburg an der Saale

1000 Geschichten

Cowboy und Indianer

Von

Ralph Steinmeyer

Man könnte meinen das jährlich stattfindende Kirschfest hätte in Naumburg die Bedeutung, die im Rheinland der Karneval hat. Diese auch von vielen Naumburgern als Adaption genannte „fünfte Jahreszeit“ ist das Image und Tourismus fördernde Spektakel, das Tradition beladen zum Aushängeschild der heutigen Domstadt zählt. Anfang der 90er Jahre gab es ein anderes mehrtägiges Spektakel, das sich zu einem Publikumsmagneten entwickelte und für wenige Jahre durchaus eine Konkurrenz in der Publikumsgunst zum Kirschfest war, das Naumburger Country- und Trucker-Fest. Im Mai 1997 schrieb ich dazu eine Glosse in dem Kulturmagazin „Der Naumburger“:

Entwurf der Titelseite  von Andreas Neumann-Nochten, “Der Naumburger”, Mai 1997

Seit Stunden schon das Blöken der LKW-Hupen in der Stadt, das mich entfernt an Walgesänge erinnert, nur weniger facettenreich. Touristen erzählen verärgert, dass sie sich auf ein ruhiges Wochenende in Naumburg gefreut hätten. Da hätten sie ja auch in Leipzig bleiben können.  Beim Podiumsgespräch zum Thema „Alptraum Auto“ kämpfen die Redner abwechselnd darum, dass ihre Ausführungen über die zukünftige Verkehrsentwicklung nicht jetzt schon im Krach der Straße untergehen. Der stellvertretende Bürgermeister und Dezernent des Bauamts, Christof Hamel befragt, was er von der PS-Demo hält, gibt sich populistisch: „Ach wissen Sie, die Naumburger sollen auch mal ihren Spaß haben.“ Als wenn es nicht genug zu lachen gebe.

Durch die Straßen ziehen vereinzelt Cowboys in vollem Gewand und jeder trägt einen Colt. „Hey Cowboy, wo geht’s hin – nach Westen?“ „Nee, nee, da bin ich schon gewesen!“ Um mich herum ein riesiger Kinderkarneval. Wie ein Politiker den Frack für offizielle Anlässe im Kleiderschrank hat, haben wohl eine größere Anzahl Naumburger ihre Trapperkluft, die einmal im Jahr ausgeführt wird. Ich würde gerne die Frage aus der letzten Ausgabe stellen, als wir fragten: „Sind Sie ein Naumburger?“ Vielleicht sind das alles Zugereiste, aber nein, einige kenne ich aus dem Straßenbild. Ich frage nicht viel, bin etwas unsicher, ob der bewaffneten Horden, die zumeist breitbeinig, aber ebenso torkelnd durch die Gassen ziehen. Zumeist mit Frauen im Schlepptau, die aussehen wie entführte Squaws, die in super kurzen Miniröcken gezwängt und leicht bis schwer über schminkt aussehen, als würden sie anschaffen…, ach verflucht, wer dabei Schlechtes denkt.

Mir fallen Sätze aus Goethes Faust ein, aus dem Osterspaziergang im ersten Teil der beiden Bände: „…alles will sie (die Sonne) mit Farben beleben. Doch an Blumen fehlt es im Revier, sie nimmt geputzte Menschen dafür.  … Zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein. Ich höre schon des Dorfs Getümmel, hier ist des Volkes wahrer Himmel.“ In einer grauen Zeit mit wenig Perspektiven birgt dieses Fest mit seiner Erinnerung an den großen Treck und dem Goldrausch der unbegrenzten Möglichkeiten eine Identität für viele, wenn auch nur für wenige Stunden.

Dies Fest als Provinzposse ab zu tun liegt nahe, trifft aber schnell daneben. In Großstädten wie Berlin gibt es ähnliche Cowboy und Indianer Spiele, nur fallen sie dort in der Fülle der Veranstaltungen nicht sonderlich auf. Es ist vielmehr deutsche Identitätssuche auf spielerische Art, insofern ist Naumburg dicht am Zeitgeist dran.

Beim Kirschfest, dem Großen, dem Traditionsreichen fehlen die freiwilligen Festumzugsteilnehmer und schon wird der nationale Notstand ausgerufen und die in Weißenfels stationierte Bundeswehr aktiviert. Beim Country- und Trucker-Fest aber sind sie alle da, in Festverkleidung und freiwillig und stolz. So ist die Stimmung im Volke. Das sollte denjenigen zu denken geben, die mit Politikverdrossenheit um zu gehen haben; es gibt auch eine Kulturverdrossenheit, und beides hängt miteinander zusammen.

 

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