1000 mal Naumburg an der Saale

1000 Geschichten

Die Waffenschau von 1476

Von

Matthias Ludwig

Nachfolgend ein Text von Domarchivar Matthias Ludwig (in gekürzter Form), der dem Saale-Unstrut Jahrbuch entnommen ist. Spannend beschreibt er einen Tag vor mehr als 500 Jahren, in denen die Stadtbefestigung die Bürgerstadt noch ganz umschloss und für deren Bewohner Überlebenswichtig war.

Am 27. Mai des Jahres 1476, am Morgen nach dem Sonntag Exaudi, der genau zwischen den hohen Festen Ostern und Pfingsten liegt, begaben sich die beiden amtierenden Bürgermeister Benedikt Spangenberg und Hans Schütze, begleitet von den Kämmerern Burkhardt Scheiplitz und Matthes von der Hardt sowie weiteren Mitgliedern des Stadtrats vom Markt aus über die kleine Mühlgasse zum Rosengarten. Der Rosengarten war damals noch ein Sack und endete an einem kleinen Platz unmittelbar an der Stadtmauer, auf dem das städtische Bordell stand. Doch die Herren strebten an diesem Morgen nicht das muhmenhaus an, sondern gingen geradewegs auf eine kleine Pforte in der inneren Stadtmauer zu, die sie in den sogenannten Zwinger führte. Die knapp sechs Meter hohe steinerne Mauer konnte an diesem Abschnitt zwischen Herrentor und Marientor erst vor 80 Jahren gebaut werden, nachdem das Domkapitel nach langwierigen Verhandlungen seine Zustimmung gegeben hatte. Denn hier, wo Domfreiheit und Ratsstadt aufeinandertrafen, ging es nicht so sehr um die Abwehr äußerer Feinde, sondern vor allem um die rechtliche Abgrenzung der beiden Gemeinwesen, die denselben Namen führten – Naumburg.

Die Wasserkunst, der einzig verbliebene Turm, der in späteren Zeiten für die Wasserversorgung genutzt wurde

Nachdem die Männer die Pforte passiert hatten, standen sie im Zwinger. Dieser nur wenige Meter breite Streifen dehnte sich zwischen der hohen inneren Mauer und der niedrigen äußeren Mauer aus, die erst vor wenigen Jahren hinzugekommen war. Die äußere Mauer, an der sich unmittelbar der Stadtgraben anschloss, verfügte auf einer Länge von ca. 2,2 Kilometern über 15 runde, viereckige und fünfeckige Streichwehren, die in den Graben hineinragten und Angreifer nicht nur von vorn sondern auch seitlich flankierend unter Feuer nehmen konnten. Diese Wehrbauten, die in den Quellen gelegentlich irreführend als „Türme“ bezeichnet werden, waren im 15. Jahrhundert mit Geschützen bestückt, die vom Stadtrat angeschafft und unterhalten worden sind. Der einwandfreie Zustand und die permanente Einsatzbereitschaft der schwerfälligen Kanonen wurde vom Rat in sogenannten Waffenschauen regelmäßig überprüft. Weil der Ladevorgang noch sehr aufwändig und langwierig war, blieben die großen Geschütze in der Regel stets feuerbereit. Da aber die Pulverladungen nicht geeignet waren, um sie für einen längeren Zeitraum in den Geschützen zu belassen, verschoss man sie in regelmäßigen Abständen. Bereits im Jahr 1441 hat der Rat sein groß Geschütz abschießen und versuchen lassen. Damals sind in Beisein etlicher junger Herrn von Brandenburg, Sachsen, Bischof von Halbersadt, Grafen von Schwarzburg und Anderer die Büchsen in den Thürmen, welche lang geladen gelegen, abgeschossen worden. Und zum gleichen Zweck fanden sich die hohen Herren vom Rathaus wohl auch an diesem 27. Mai 1476 zusammen. Erste Station der Inspektion war eine schmale rechteckige Streichwehr am Ende des Rosengartens, die weit in den Graben hineinragte und noch auf Plänen des 18. Jahrhunderts nachweisbar ist. Sie wird vom Protokollanten als Turm gegenüber der Windmühle bezeichnet. Und tatsächlich blickten die Ratsherren von dieser Stelle aus auf eine Windmühle, die nur wenige Meter vor ihnen auf der anderen Seite des Grabens stand. Sie gehörte zum Besitz des Domkapitels und sollte später noch Anlass zu einem heftigen Streit mit dem Stadtrat geben. Weiter links fiel der Blick auf die Zugbrücke des Herrentors, das die Bürgerstadt mit der Domfreiheit verband und über das der Stadtrat sehr zum Ärger des Domkapitels zu gebieten hatte. Dahinter führte der Steinweg hinab zur 200 Meter entfernten Kathedrale. Die Waffenschau verzeichnet für die Streichwehr am Rosengarten zwei Steinbüchsen und eine Terrasbüchse. Steinbüchsen waren große Geschütze, die wie der Name verrät, schwere Steinkugeln von unterschiedlichem Kaliber verschossen. Die erste vom Stadtrat im Jahr 1393 in Auftrag gegebene Steinbüchse hatte ein Gewicht von etwa 225 Kilogramm und ihre Geschosse einen Durchmesser von 20 Zentimeter. Aufgrund der beträchtlichen Größe standen sie in der Regel an festen Plätzen und wurden nicht bewegt. Terrasbüchsen waren mittelschwere Geschütze, die auf Lafetten lagen und entsprechend bewegt werden konnten. In beiden Fällen bestand die Treibladung aus Schwarzpulver.

Zeitgenössische Darstellung des Schneiderturms in Höhe Lindenring / Fischstraße

Die Ratsherren hatten noch einen langen Weg vor sich. Beim Blick nach rechts, also nach Nordosten, konnten sie in 100 Meter Entfernung bereits ihre nächste Station erkennen, eine runde Streichwehr am Ausgang der Breiten Straße (Fischstraße). Die Männer folgten dem Verlauf des Zwingers, der entgegen ursprünglicher Vorgaben von einzelnen Bürgern längst als Lagerplatz genutzt wurde. Erst im Jahr 1561 griff der Magistrat durch und verbot endgültig das Ablegen von Holz, Stämmen oder anderem Baumaterial im Zwinger. Lediglich Fässer durften weiterhin abgestellt werden. So wie bereits am Rosengarten riegelte die Mauer auch die Breite Straße komplett ab. Eine Verbindung nach außen gab es nicht. Auf der städtischen Seite der Mauer existierte lediglich ein schmaler unebener Pfad, der seitlich an den letzten Häusern vorbeiführend die einzelnen Straßen miteinander verband. Die zweite Streichwehr war unmittelbar gegenüber jener Stelle errichtet worden, wo die Neumauer der Domfreiheit auf den Graben und die Befestigung der Ratsstadt traf. Die 1332 vom Domkapitel vollendete Mauer verlief von hier fast schnurgerade 400 Meter in nordwestliche Richtung, bevor sie im Bereich der heutigen Georgenschule nach Südwesten abknickte und 120 Meter weiter zum Georgentor kam, das die Domfreiheit mit dem gleichnamigen Kloster verband. Das Georgentor war von der Streichwehr an der Breiten Straße nicht einsehbar, dafür konnten die Ratsherren deutlich das nur 220 Meter entfernte Neutor erblicken, das von der Domfreiheit zur Straße nach Halle führte. Wieder nahm der Protokollant die Feder zur Hand. Er trug ein: vier Steinbüchsen, zwei Terrasbüchsen und fünf Hakenbüchsen, die in Kisten lagen. Hakenbüchsen können bereits als Handfeuerwaffen gelten, auch wenn sie mit einem Gewicht von bis zu 7,5 Kilogramm noch recht schwerfällig waren, weshalb sie beim Feuern mit Haken arretiert wurden. Die ältesten erhaltenen Stadtpläne aus dem 18. Jahrhundert belegen, dass nach der Streichwehr am Ausgang der Breiten Straße bis zum Marientor noch zwei weitere rechteckige Wehrbauten an der Zwingermauer lagen, die jedoch nicht in der Waffenschau von 1476 genannt werden, vermutlich weil sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht errichtet worden waren.

Das Marientor in den 1990er Jahren, noch nicht unter Putz.

Das Protokoll fährt unter der Überschrift vom mergenthore biß zcum jacoffsthore fort mit einer Streichwehr, die zwischen der landskrone und dem Jakobstor liegt. Da es zwischen dem Marientor und dem Jakobstor überhaupt nur zwei Streichwehren gab, kann es sich bei der „Landskrone“ nur um jene fünfeckige Anlage handeln, die auch heute noch erhalten ist (Marienmauer 19), während wir die Station in der Waffenschau in der runden Anlage südlich der Thainburgbrücke erkennen (Marienmauer 16). Der Protokollant verzeichnete zwei Steinbüchsen und eine Terrasbüchse. An dieser Stelle verließen die Ratsherren kurzzeitig den Zwinger, um sich der Jakobskirche in der gleichnamigen Straße zuzuwenden. Das alte, bereits 1540 abgerissene, Gotteshaus, das die nordöstliche Ecke des Holzmarktes begrenzte, war 1476 längst profaniert, diente also keinen kirchlichen Funktionen mehr. Die Familien, die einst in ihr eingepfarrt waren, besuchten inzwischen die Gottesdienste in der vergrößerten Wenzelskirche am Markt.

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