Alljährlich, wenn die Kirschen reifen, ist es in Naumburg wieder so weit, das Kirschfest naht. Erste Anzeichen dafür, dass die Zeit heran ist, zeigen sich an den Häusern, in den Geschäften und auf öffentlichen Plätzen. Naumburg-Fahnen aller Größen werden angebracht, Schaufenster dekoriert. Übergroße Kirschen als Sitzflächen oder zur Dekoration des Kreisverkehrs am Kramerplatz erfreuen die Naumburger und ihre Gäste. Kirschen überall und aus allen möglichen Materialien und wenn das Wetter mitspielt, auch echte, sind allenthalben zu sehen. Kirschfestrabatte winken und die Menschen sind erwartungsfroh. All jene, die aktiv am historischen Umzug teilnehmen, kramen ihre Kostüme hervor und freuen sich, das Fest mitzugestalten. Man steht Schlange, um eine Holzkirsche zu ergattern und ist gespannt, welche Farben in diesem Jahr aktuell sind.
Wenn dann am Kirschfestdonnerstag, 17 Uhr am Rathaus die Kirschfestfahne entrollt und das Warten vorbei ist, wird wieder der „Sieg der Schwachheit über die Stärke“ gefeiert. Auch wenn diese Geschichte erfunden und 1782 der Feder des Garnisonsschullehrers Johann Georg Rauhe entsprungen ist, der sein Einkommen damit aufzubessern gedachte. Vielleicht gerade wegen dieser Erfindung hat sich das Kirschfest bis heute erhalten und ist spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom ehemaligen Kinderfest zum Volksfest mutiert.
Und was kann man alles sehen, wenn man mit offenen Augen durch die Stadt, über die Vogelwiese, durch das Hussitenlager oder das Weindörfchen auf dem Holzmarkt geht. Geschmückte Menschen in Kirschfest-T-Shirts, Blusen, Röcken, Kleidern und Krawatten mit Kirschmotiven, Halsketten an denen Kirschen baumeln, Kirsch-Ansteckern. Doch nicht nur den Augen wird etwas geboten, sondern auch den Ohren. Naumburgs Hymne, das Kirschfestlied, erklingt auf den Straßen, Plätzen und aus den Festzelten. Als Carl Friedrich Seyferth 1832 das Lied schrieb, hat er sicherlich nicht gedacht, dass es so lange in aller Munde ist. Wenn man sieht, mit welcher Inbrunst es selbst die Kleinsten z. B. beim Kinderkirschfest schmettern, muss einem nicht bang sein, dass es in Vergessenheit gerät.
Auch wenn also der historische Hintergrund reine Erfindung ist, war die Geschichte der Belagerung der Stadt durch die Hussiten und die Rettung durch die Kinder Vorlage für vielfältige künstlerische Werke. Einige Beispiele dafür sind das Schauspiel von August von Kotzebue mit dem Titel „Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432“, und die Scherenschnitte von Walter Hege, die heute noch die Fassade eines Hauses in der Marienstraße zieren und auch die Vorlage für das Naumburger Notgeld im Jahr 1920 waren.
Der Autor dieser Zeilen hat sich davon animieren lassen und bastelte innerhalb von zwei Jahren im stillen Kämmerlein eine figürliche Darstellung der Kirschfestsage. Ursprünglich nur für die eigene Familie gedacht, hat er sich später überzeugen lassen, sie 2023 erstmals der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Als Ausgangsmaterial dienten meistens Holzreste, aus denen auf der Drechselbank Grundkörper entstanden, die dann mit diversen Raspeln verfeinert wurden. Arme mit Händen wurden separat gefertigt. Anschließend mit Pappe, Papier, Stoff und Wolle beklebt und schließlich mit Acrylfarbe bemalt entstanden so 28 menschliche Figuren und ein Pferd. Wegen ihrer geringen Größe stellten verschiedene Ausrüstungsgegenstände der einzelnen Figuren eine besondere Herausforderung für den Erbauer dar. Dazu gehören u. a. verschiedene Werkzeuge, Körbe und Waffen. Viel Geduld erforderte auch die Anfertigung eines Käfigs mit 3 Hühnern darin, der nur reichlich 3 cm hoch ist.
Was erwartet nun den Betrachter, der die Fugurengruppe in einem der Schaufenster in der Naumburger Innenstadt gefunden hat? Man kann die vor den Mauern der Stadt aufmarschierten Hussiten sehen, natürlich mit Prokop hoch zu Ross an der Spitze. Ein hussitischer Kampfwagen ist auch aufgefahren. Vor Prokop stehen und knien die Kinder, die mit ihrem Lehrer zum Hussitenlager gegangen sind, mit um Gnade bittend erhobenen Händen. Einer der hussitischen Mitstreiter und eine Marketenderin haben Kirschen dabei und Prokop kommandiert mit erhobenem Schwert „hinterwärts von Naumburg“. Vor dem Stadttor ist die Stadtwache angetreten, die den Naumburger Oberbürgermeister, den Stadtkämmerer und den Stadtschreiber eskortiert. Natürlich fehlt auch der Fahnenschwenker nicht. (Der Stoff der Fahne ist das einzige Teil, das der Autor nicht selbst geschaffen hat, hier hat „Foto-Becker“ unterstützt). Auf der anderen Seite des Stadttors sind einige Naumbürger versammelt. Ein Schmied, ein Tischler, ein Schneider, ein Töpfer und ein Saalefischer sind zu sehen, und auch zwei Frauen, die ihre Waren, Hühner, Eier und Obst zum Markt tragen.
Der Autor hofft mit seinem Werk vor allem Kindern eine Freude zu machen und wünscht ein schönes Kirschfest!