1000 mal Naumburg an der Saale

1000 Orte

Der Kiosk und die Straßenbahn auf dem Marktplatz (Lost Places 2)

Von

Ralph Steinmeyer

Es war nicht der einzige Kiosk im Naumburger Stadtbild, aber er war mit seiner Lage neben der Litfaß-Säule zur Herrenstraße hin der markanteste und auch der von vielen Kunden besuchte Punkt auf dem Naumburger Marktplatz. Neben vielen Zeitungen und Zeitschriften wie auch nicht jugendfreier Bückware gab es Zigaretten und Süßigkeiten. Schade, dass er Mitte der 90er Jahre, als der Marktplatz mit Robinien bestückt und neu gestaltet wurde, verschwinden musste. Der hässliche Verkaufswagen mit vietnamesischen  Essen, der dann den Standplatz auf ein Jahrzehnt übernahm, war optisch ein wahrer Rückschritt.

Es gab einmal Zeiten, da fuhr die Naumburger Straßenbahn durch die Jakobsstraße über den Marktplatz, wo ein paar Meter Gleise auch heute noch gelegt und zu sehen sind. 1992, als der erste Oberbürgermeister nach der Wende, Curt Becker, die Straßenbahn kurzerhand abschaffte, obwohl kurz zuvor staatliche Subventionen  in den Ausbau der Gleisanlagen in der Bahnhofsstraße geflossen waren (wie der Bundesrechnungshof monierte), schaffte es der Straßenbahn-Verein um Andreas Plehn, große Teile der Naumburger Bevölkerung zum Protest zu bewegen. Ihre Ille sollte bleiben, nicht nur als Touristenbahn, sondern wieder im öffentlichen Nahverkehr unterwegs sein, und wenn irgend möglich auch wieder als Ringbahn um die gesamte Stadt. Das sollte aber noch ein Jahrzehnt und zwei weitere Oberbürgermeister dauern, bis sie in den Nahverkehr integriert wurde, und das auch nur auf gut der Hälfte der ursprünglichen Trassenkilometer.

Eindrucksvoll und sicherlich werbewirksam war, als über Nacht ein Straßenbahn-Waggon auf dem verbliebenen Gleiskörper vor dem Optikgeschäft Apollo aufgestellt wurde. Der Straßenroller, der dieses Husarenstück verbrachte und das Gleisfahrzeug transportierte, wurde aufgrund der wenigen Anwohner gar nicht bemerkt. Er erinnerte Curt Becker beim Blick aus seinem Amtszimmer-Fenster nun täglich daran, dass die Straßenbahn nicht so einfach weg zu rationalisieren war. Auch sein Projekt “Autofreie Innenstadt” hat er damals nicht durch bekommen, sondern nur reglementiert. Der Verkehr blieb also. Und auch sein Projekt “kein Bordell innerhalb der Stadtmauern” ging schief, in der Wenzelsgasse eröffnete 1992 das “Lord Nelson”. Auch da viel Verkehr, zumindest bis zur Corona-Zeit, heute steht es leer.

Curt Beckers oberster städtischer Restaurator in den 90er Jahren, Ulrich Böduel (tragisch verstorben im April 2020) hatte da eine andere Meinung, wie er mir einmal erzählte. Ihn faszinierte im Gegensatz zu Deutschland das quirlige Leben in französischen Städten. Und da wären die abgestellten Autos auf den Marktplätzen auch ein Teil davon. Gut, das hat sich mittlerweile in fast allen französischen Städten geändert, und trotzdem ist das quirlige Leben geblieben. Aber ein  Foto mit einem voll geparkten Naumburger Marktplatz habe ich, allerdings aus dem Februar 2023. Es besteht also noch Handlungsbedarf.

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